Resilienz neu gedacht: Die Ära des One-Big-Heros ist vorbei!

Ein DDIM Interview mit Prof. Dr. Niko Kohls, Keynote Speaker beim DDIM.kongress // 2025

Im DDIM Interview beleuchtet Prof. Dr. Niko Kohls, Professor für Gesundheitswissenschaften und Keynote Speaker beim DDIM.kongress // 2025, warum psychologische Anpassungsfähigkeit mehr ist als bloßes Durchhalten. Er zeigt auf, wie Selbstregulation, Achtsamkeit und Ambiguitätstoleranz zu zentralen Führungsqualitäten werden – und weshalb starre Heroenbilder in der heutigen Arbeitswelt keinen Platz mehr haben. Auch Interim Manager erhalten konkrete Impulse für wirksames Handeln in unsicheren Systemen.

Herr Prof. Kohls, wo verläuft für Sie die Grenze zwischen psychologischer Resilienz und dem bloßen Funktionieren unter Druck?

Das wird in der öffentlichen Debatte oft verwechselt. Resilienz ist nicht das Aushalten von Druck oder ein „Weiterfunktionieren“. Ich verstehe darunter eine intelligente Anpassung oder das, was die Evolution seit Anbeginn macht: eine smarte, ressourcenschonende Lösung für ein Problem finden. Echte Resilienz ist durch Bewusstheit gekennzeichnet. Selbstregulation spielt eine große Rolle, ebenso Sinn-orientierung. Sie ermöglicht Menschen, bzw. Organismen, nicht nur zu wachsen, sondern sich zu entwickeln, also angelegte Potenziale wirklich zu entfalten. Und oft werden diese Potenziale nicht unter Idealbedingungen sichtbar, sondern gerade, wenn Probleme da sind. Zugleich setzt Resilienz eine reflektierte Kontextdiagnose voraus: Ich muss unterscheiden, ob ich mich an veränderbare Bedingungen intelligent anpasse oder ob ich mich an pathologische Strukturen gewöhne. Resilienz heißt dann nicht Verhärtung, sondern Plastizität: die Fähigkeit, unter Erhalt der eigenen Werte flexibel zu bleiben, Routinen zu verlernen und neue Muster mit minimalem Energieaufwand zu etablieren.

Die Forschung zeigt aber auch, dass dauerhafte Anpassung selbst zur Belastung werden kann. Ist Resilienz nicht ein Risiko, wenn Menschen dadurch zu viel aushalten, statt Grenzen zu ziehen?

Absolut. Es kommt darauf an, worauf wir uns beziehen. Menschen gewöhnen sich mitunter an dysfunktionale Zustände: toxische Beziehungen, katastrophale Arbeitsbedingungen, Umweltbelastungen. Diese nehmen sie irgendwann als „normal“ hin. Das mit Resilienz zu verwechseln, ist gefährlich. Die WHO sagt klar: Verhältnisprävention geht vor Verhaltensprävention. Erst die Strukturen anschauen, dann am Individuum arbeiten. Überspitzt: Ich kann in Kriegsgebiete gehen und Resilienztrainings anbieten, aber das löst nicht den Kern des Problems. Der liegt in den Umständen, die Stress erzeugen. Deshalb braucht es einen konstruktiv-kritischen Blick aufs System, statt die Last allein auf die Schultern des Einzelnen.

Welche Rolle spielt das bewusste Zulassen von Unsicherheit oder Schwäche in Führungsrollen?

Wir leben in Zeiten großer Umbrüche und multipler Krisen. Eine Schlüsselfähigkeit ist Ambiguitätstoleranz, also die Fähigkeit, Unklarheit aushalten zu können. Die Ära des unverwundbaren „One Big Hero“-Leaders ist zu Ende. In komplexen Welten mit komplexen Problemen zählen Teamwork und Authentizität. Dazu gehört, offen zu kommunizieren, dass man als Führungskraft nicht allwissend ist, aber integer handelt. Gleichzeitig gilt: In Hochstress-Organisationen wie Militär oder Polizei sind hierarchische Strukturen oft funktional, dort fehlt die Zeit für lange Debatten; es braucht „situational awareness“, also das Wissen darum, was gerade passiert, warum es passiert und welche Konsequenzen daraus folgen könnten. Davon können auch Unternehmen anderer Bereiche lernen: Einen klaren Überblick behalten, Prioritäten erkennen und handlungsfähig bleiben, ohne in hinderliche Automatismen zu verfallen.

Die Wirtschaftslage ist angespannt. Viele wünschen sich wieder Führung mit „klarer Kante“.

In unsicheren Zeiten suchen Menschen Struktur und Stabilität, ohne bevormundet zu werden. Wir sehen vielerorts einen Rollback: politisch, gesellschaftlich, auch im Führungsverständnis. Doch wer glaubt, Deutschland könne wieder so sein wie zur Zeit der 50er und 60er, verschließt den Blick auf den globalen Wandel. Und harte Führung trägt auch nichts dazu bei. Gute Führungskräfte können Halt geben und gleichzeitig Autonomie ermöglichen. Sie können Selbstwirksamkeit zulassen, ohne Orientierung preiszugeben. Heute muss Führung situativ sein. Es gibt nicht den einen Stil für alle Menschen und Lage.

Wo erleben Sie als Berater die größten Missverständnisse, wenn Unternehmen Resilienzprogramme einführen?

Das Muster hält sich seit Jahrzehnten: Man schiebt die Hauptlast der Selbstregulation auf die Mitarbeitenden und erklärt die Rahmenbedingungen für unveränderlich. Dadurch wird Verantwortung für Überlastung individualisiert, während strukturelle Probleme, etwa Arbeitsverdichtung oder fehlende Ressourcen, bestehen bleiben. Mit der Einführung von KI verschärft sich das: Sie wird oft nicht als Unterstützung, sondern als Bedrohung erlebt, was zu Misstrauen, Zukunftsangst und einem stillen psychologischen Verschleiß führt. Viele Organisationen unterschätzen die psychologischen Folgen massiv.

Kann man psychologische Sicherheit im Unternehmen messen?

Psychologische Sicherheit ist ein stabiler Indikator für die Organisationsatmosphäre. Und ja, man kann sie indirekt und direkt messen. Indirekt über Verhaltensindikatoren: Geben Menschen offenes, ehrliches Feedback oder nicken sie ab? Wie wird mit Fehlern umgegangen? Wie viel Zynismus und Sarkasmus kursiert? Das sind robuste Hinweise. Daneben gibt es valide Fragebögen und auch Achtsamkeitstrainings, die messbar die psychologische Sicherheit erhöhen. Das ist kein Hirngespinst, sondern lässt sich klar messen und belegen.

Sie sprechen von Präsenz als Führungsqualität. Wie zeigt man Präsenz in einer digitalisierten Arbeitswelt?

Präsenz heißt zuerst, sich der Gegenwart bewusst zu sein, also: Situationen und Menschen wirklich zu sehen und ihre Nöte, Sorgen oder berechtigte Kritik wahrzunehmen. Viele Führungskräfte verbringen zu wenig Zeit im offenen Dialog, weil sie im Operativen untergehen: Mails, Tasklisten, endlose Meetings. Dann überhört man wichtige Punkte. Achtsamkeit heißt, Dinge zunächst wahrzunehmen, nicht sofort zu bewerten, nachwirken zu lassen, sodass die Gegenüber sich gesehen und gehört fühlen.

Und wie passt Achtsamkeit in eine Welt, in der es am Ende um Zahlen geht?

Nochmal: Achtsamkeit ist messbar über Fragebögen, physiologische und neuropsychologische Verfahren, Bildgebung, EEG. Vor allem aber ist sie betriebswirtschaftlich relevant: Ohne Bewusstseinskultur entsteht in Organisationen wenig. Es braucht Menschen, die mentale Inhalte tragen, kommunizieren und weiterentwickeln. Positive Psychologie stärkt Eigenschaften wie Optimismus, Vertrauen, Gelassenheit, Innovationskraft. Wo Purpose und Werte gelebt werden, gehen Menschen die Extrameile. Das ist übrigens etwas, das man mit „Command & Control“ nicht erreicht.

Wie viel innere Arbeit ist für gute Führung nötig und ab wann kippt Selbstreflexion in Selbstinszenierung?

Jede Kompetenz kann überexekutiert werden und ins Gegenteil kippen. Selbstfürsorge, Achtsamkeit, Selbstregulation sind zentral, aber sie dürfen nicht zum Vorwand werden, Unangenehmes zu meiden. Ein Kernprinzip ist Belohnungsaufschub oder „Delay of Gratification“. Der berühmte Marshmallow-Test von Walter Mischel zeigt das eindrücklich. Lesen Sie sich den „Marshmallow-Effekt“ durch, ich kann es wirklich empfehlen. Wer kurzfristig auf Belohnungen verzichten kann, hat langfristig weniger Stress und bessere Outcomes. Heute torpedieren permanente Mikro-Reize – Scrollen, Likes – das dopaminerge System. Wer nur noch extern getriggert wird, verlernt, Motivation von innen zu generieren. Übung in „Langeweile-Toleranz“ und der Umgang mit nicht unmittelbar positiven Gefühlen gehören daher zur Führungsreife.

Was raten Sie Interim Managern und Managerinnen, die schnell Vertrauen aufbauen und zugleich Strukturen verändern müssen?

Interimsmandate entstehen oft, wenn das System seine Probleme nicht mehr selbst lösen kann. Entsprechend hoch ist die Anforderung. Veränderung erzeugt Irritation und mitunter Widerstand. Wichtig sind Authentizität, Klarheit und das schnelle „In-Resonanz-Kommen“ mit dem System: psychologische Sicherheit schaffen, zeigen, dass es ernst gemeint ist und ebenso klar wieder rausgehen, wenn die Aufgabe erfüllt ist. Das ist psychologisch anspruchsvoll und kann verschleißen. Der Markt selbst setzt zusätzlich unter Druck: Wer länger keine Mandate hat, wird unsicher. Und Unsicherheit strahlt aus. Umso wichtiger sind belastbare Erfolge, die weiterempfohlen werden. Hilfreich ist es, regelmäßig kurze Reflexionspausen einzuplanen, die eigene Rolle bewusst zu überprüfen, klare Grenzen zwischen Arbeit und Erholung zu ziehen und kleine Routinen für mentale Stabilität zu pflegen, etwa genug Schlaf, achtsames Atmen oder kurze Spaziergänge ohne Ablenkung.

Prof. Dr. Niko Kohls ist Medizinpsychologe und seit 2013 Professor für Gesundheitswissenschaften an der Hochschule Coburg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Stressforschung, Resilienz und der Begleitung von individuellen und organisationalen Transformationsprozessen. Er gilt als einer der führenden Experten für Resilienz, Achtsamkeit und Future Skills in Deutschland. Neben seiner akademischen Tätigkeit ist er ein gefragter Keynote-Speaker, Autor zahlreicher Publikationen und Berater. Mit seiner Arbeit unterstützt er Unternehmen und Organisationen dabei, die Herausforderungen von Unsicherheit, Komplexität und Wandel erfolgreich zu meistern. Dabei verbindet er wissenschaftliche Erkenntnisse mit praktischen Ansätzen, die Orientierung geben und zur Umsetzung inspirieren.