Agile Restrukturierung – Geht das überhaupt?

Ein Beitrag von Gert Spruner von Mertz, Leiter der DDIM.fachgruppe // Prozessoptimierung, und Dan-Felix Sorgler

Definition „agil“

Agil sein heißt, mit aufkommenden Veränderungen in dynamischen Umgebungen gut umgehen zu können. Die Vorteile agilen Vorgehens für diverse Aufgabenstellungen sind inzwischen unbestrittenen. Doch wie verhält es sich mit der Restrukturierung?

Über uns:

Wie kam es zu diesem Beitrag? Ich selbst, Interim Manager für die Restrukturierung produzierender Unternehmen, beschäftige mich schon seit einiger Zeit mit agilem Arbeiten. Im Arbeitsfeld der Restrukturierung in großer Notlage des Mandanten jedoch praktiziere ich bisher eher klassisches Vorgehen. Damit meine ich, die Dinge werden in einem kleinen Kreis diskutiert, entschieden und dann per Anweisung umgesetzt. Also bisher nicht agil.

Dan-Felix Sorgler hat sich als Berater und Ausbilder auf agiles Arbeiten spezialisiert und nutzt die vielfältigen Möglichkeiten für Kreativität und Veränderungsimpulse bei seinen Kunden. Aber weniger in existenziellen Krisen von Unternehmen. Wir wollten es nun genau wissen und haben uns einen realistischen Ablauf einer leistungswirtschaftlichen Restrukturierung vorgenommen und diesen ganz konkret auf den Nutzen agiler Methoden und Herangehensweisen untersucht. Das Ergebnis haben wir in einem Workshop der Interim-Profis mit einem Kreis von Interim-Managern diskutiert.

Einleitung

Die inzwischen unbestrittenen Vorteile agilen Vorgehens betreffen vorwiegend die Merkmale Kreativität, Umsetzungsgeschwindigkeit, Mobilisierung der Mitarbeiter sowie die Reaktion auf Veränderungen. Damit scheinen agiles Mindset und agile Methoden ideal zu den Herausforderungen einer Restrukturierung von Unternehmen in einer oft existenziellen Krise zu passen. Wieso gibt es dazu bisher so wenig Beispiele? Das hat sicher praktische Gründe. Zu nennen wäre etwa die Erwartung der Auftraggeber an klassische Managementmanagementpraktiken. Aber nicht nur.

Welche Fragen stellen sich?

Dem erfahrenen Interim Manager stellen sich sofort, man könnte auch sagen reflexartig, eine Reihe von Fragen zur Umsetzung. Diese sind beispielsweise:

  • Wie kann ich den agilen Prozess konstruktiv steuern?
  • Wie kann ich den Banken den Arbeitsfortschritt der Restrukturierung darstellen?
  • Wie veranlasse ich ein Unternehmen mit klassischer Projektstruktur „plötzlich“ selbstbestimmt zu arbeiten?

Wann ist agil im Vorteil?

Agile Ansätze mobilisieren Teams von Mitarbeitern, überschaubare Aufgabenpakete in kurzer Zeit zu lösen. Dies ist insbesondere dann hilfreich und sinnvoll, wenn es zu dem aktuellen Problem kein Wissen, also kein Lösungsrezept, im Unternehmen gibt. Diese Situation wird in Restrukturierungen die Regel sein. Verstärkt wird dieser Effekt bei Veränderungen der äußeren Rahmenbedingungen. Ein Beispiel sind schnell veränderliche Märkte, die die bisherige Wertschöpfung des Unternehmens plötzlich weniger nachfragen.

Was ist der Mehrwert?

In solchen Fällen produzieren agile Teams in kurzer Zeit bereits erprobte Lösungen. Dies geschieht einerseits durch ihr Könnertum in den spezifischen Fragen der Wertschöpfung, sowie andererseits durch Methoden zur Veränderung der Sicht auf die Probleme. Dafür ist es erforderlich, ihnen die Organisation für die Lösung der zugeordneten Probleme weitgehend selbst zu überlassen.

Wie könnte dies ablaufen?

In Open Space Formaten könnte der Führungskreis des Unternehmens die aktuellen Schwachpunkte der Wertschöpfung bereichsübergreifend aufdecken und Maßnahmenschwerpunkte entwickeln. Dabei könnten bedarfsweise in einzelnen Gruppen Methoden von Design Thinking zum Einsatz kommen. Neben der umfänglichen Betrachtung des Lösungsraums ergibt sich dabei praktisch automatisch bereits eine Priorisierung der Lösungsansätze hinsichtlich der Umsetzung. Kanban Boards in den Teams führen zur schneller Lösungsfindung und Transparenz. In einem Koordinationskreis Restrukturierung können agile Teams und klassische Projekte gemeinsam verfolgt und gesteuert werden. An dieser Stelle könnte ein Führungsmonitor als Company-Board zum Einsatz kommen.

Es empfiehlt sich in gewisser Weise, den Mitarbeitern ein Gestaltungsrecht einzuräumen, an welchen Themen sie arbeiten wollen und inhaltliche Beiträge erarbeiten. Damit wird das jeweilige Problem zu ihrem. Daher wird die Teilnahme nicht angeordnet, sondern eher zur freiwilligen Bewerbung aufgerufen. Bei der Teambesetzung sind Diversität und Vollzeit-Einsätze Erfolgsfaktoren. Auf diese Weise kann auch Unternehmen, die mit agilem Denken bisher keine oder wenig Berührung hatten, in einer Verbindung mit der Schulung des agilen Mindsets der schnelle Einstieg von agilem Arbeiten in einzelnen Teams gelingen.

Ein wichtiger Bestandteil der Vertrauensbildung ist die Einhaltung zuvor festgelegter Aktivitäten. Die sonst übliche Form ist die Planung in Verbindung mit dem Soll-/Ist- Abgleich. Im Falle großer Dynamik sind geplante Maßnahmen schnell überholt. Abhilfe könnte hier die Anwendung einer Aufgabentaktung derart bieten, dass Arbeitspakete zeitlich zugeordnet sind, sich jedoch inhaltlich noch deutlich ändern dürfen.

Ein weiterer wesentlicher Punkt bei agilem Vorgehen sind Retrospektiven auf den verschiedenen Arbeitsebenen, die z.B. in 4-wöchigem Rhythmus zu aktivem Lernen im Restrukturierungsprozess führen. Hier besteht die Möglichkeit, die Ergebnisse öffentlich zu machen.

Wie kann die Vermarktung bei Stakeholdern erfolgen?

Mit dem dargestellten Vorgehen soll natürlich kein Sanierungsgutachten ersetzt werden, aber es kann viel Bewegung in die Restrukturierung gebracht werden. Nun muss dieses Konzept auch den relevanten Stakeholdern, wie Finanzierern und Banken, vermittelt werden. Die Akzeptanz agiler Methoden muss auch erst vertrauensbildend erlernt werden, auch wenn Agilität in aller Munde ist. Helfen wird dabei das Wissen, dass:

  • die operative Unternehmensebene mit den Restrukturierungsmaßnahmen erreicht wird,
  • die relevanten Aufgaben definiert, verteilt und terminiert sind und
  • die Aufgabenumsetzung konsequent verfolgt wird und neue Erkenntnisse sofort zu den richtigen Korrekturen führen.

Zusammenfassung

Auf die dargestellte Weise kann die Restrukturierung auf eine Vielzahl von Schultern verteilt und damit leichter bewältigt werden. Die Kommunikation kann leicht transparent gestaltet werden und spezifische Könner im Unternehmen werden sich plötzlich zeigen und entwickeln können. Die Abwehrmechanismen der Unternehmenskultur können auf diese Art der Mitwirkung ausgehebelt werden. Außerdem wird die Kapazität erhöht, um der Vielzahl von Veränderungen praktikable Lösungen entgegenzustellen. Dies betrifft besonders, aber nicht nur, Unternehmen die großer Dynamik ausgesetzt sind. Auf den Fall von Mitarbeiterentlassungen in der Restrukturierung in diesem Zusammenhang wurde bewusst nicht eingegangen, da jeder Fall als ein Einzelfall zu betrachten ist. Auch haben wir uns in dieser Betrachtung auf den leistungswirtschaftlichen Teil der Restrukturierung beschränkt.

Glossar

Open Space 

Open Space ist eine Methode, um in kurzer Zeit mit vielen Menschen mit Fragen in Interaktion zu treten, die sie beschäftigen. Dadurch kann eine „kollektive“ Intelligenz angeregt werden. Die beiden wichtigsten Zutaten von Open Space sind einerseits eine sehr klare Struktur, und andererseits ein sehr hohes Maß an Selbststeuerung und Freiwilligkeit. Das „Gesetz der zwei Füße“ im Open Space lautet: „Gehe dorthin, wo Du etwas beitragen oder etwas lernen kannst. Wenn dies nicht der Fall ist, nutze Deine Füße“.

Design Thinking

Design Thinking ist eine Methode, um bei besonders komplexen Problemen einerseits schnell den Kern des Problems zu verstehen, andererseits schnell innovative Prototypen zur Lösung des Problems zu entwickeln, die direkt getestet werden können. So entstehen in sehr kurzer Zeit Ideen, die an der richtigen Stelle ansetzen und echte Veränderung ermöglichen. Design Thinking wird häufig in der Produktentwicklung eingesetzt – Dan-Felix Sorgler nutzt diese Methode jedoch auch im Kontext von Organisationsentwicklungen und macht sehr gute Erfahrungen damit.

Kanban

Kanban kennen viele aus der Produktion. In den letzten Jahren gibt es jedoch moderne Weiterentwicklungen für die Projekt- und Firmenorganisation. Wie in der Produktion geht es dabei vor allem um Transparenz, Priorisierung und ein schnelles Umsetzen: Bottlenecks werden frühzeitig erkannt, Ergebnisse schneller wirksam, was insgesamt eine stark motivierende Wirkung haben kann.

Agiles Mindset

Agiles Mindset heißt vor allem, das immer noch häufig vorherrschende Muster „oben wird gedacht, unten wird gemacht“ zu durchbrechen. Führungskräfte lernen in einer Weise zu führen, dass Mitarbeiter sich ernst genommen fühlen. Mitarbeiter lernen, aus angepassten oder trotzigen Rollen in eine unternehmerische und mitgestalterische Haltung zu kommen.

Im klassischen Vorgehen gibt es wenig Raum für bewusstes Reflektieren und Lernen. Im Projektmanagement werden die „Lessons learned“ in der Regel am Ende gesammelt, aufgeschrieben – und verschwinden dann in der Schublade. Agiles Vorgehen lebt wesentlich von „Retrospektiven“, das sind regelmäßige, aber zeitlich begrenzte Zeiträume, in denen reflektiert wird, was gut läuft, was nicht, was man besser machen könnte, um direkt für den nächsten Zeitraum praktische Maßnahmen zu beschließen, um erfolgreicher zusammen zu arbeiten. Werden Retrospektiven gut durchgeführt, kann auf Dauer keine Unzufriedenheit bestehen und das Unternehmen lernt sehr schnell. Gerade in Sanierungsprozessen wäre dies ein entscheidender Vorteil.

Die Autoren

Gert Spruner von Mertz, DDIM Interim Manager und Leiter der DDIM Fachgruppe Prozessoptimierung, hat sich auf die Restrukturierung produzierender Unternehmen spezialisiert und beschäftigt sich schon seit einiger Zeit mit agilem Arbeiten. Sein Fokus in der Restrukturierung liegt auf der gesamten Wertschöpfungskette, mit dem Ziel, schnelle und wirksame Veränderungen herbeizuführen. Mit integrierenden und agilen Führungsmethoden macht er Mitarbeiter zu Verantwortungsträgern und realisiert Veränderungen mit Tragkraft und Bestand, weit über die Dauer seiner Mandate hinaus. Dabei wählt er situativ zwischen klassischen und agilen Wegen aus. Sein Motto lautet: „Die Mitarbeiter zu Beteiligten machen“.

Als Agiler Trainer, Berater und Coach ermöglicht Dan-Felix Sorgler seit 2011 Firmen und Organisationen, erfolgreich zusammenzuarbeiten. Zum Thema „agiles Projektmanagement“ hat er praktisch und wissenschaftlich geforscht und u. a. mit der Tiba Managementberatung eine Studie zu agilem Projektmanagement in der Industrie veröffentlicht. Seine Dienstleistungen reichen von Führungskräfte-Coaching, über Führungskräfteentwicklung, bis hin zur Lebensberatung. Er hat mehrere agile Transformationen persönlich begleitet – dabei legt er besonderen Wert auf die Stimmigkeit von Kultur, Struktur und Prozessen.