Lean 2.0 – eine Möglichkeit für den Einstieg in die digitale Transformation
Text: Dr.-Ing. Angelika Kolb-Telieps
Die mittelständische Industrie sieht sich mit steigendem Wettbewerbsdruck und äußerst anspruchsvollen Kundenerwartungen konfrontiert. Um dem gerecht zu werden, haben die Unternehmen in den vergangenen Jahren viele Lean-Projekte auf den Weg gebracht. Die gesteckten Ziele wurden allerdings nicht immer erreicht. Gleichzeitig ist Industrie 4.0 in aller Munde. Deshalb stellt sich die Frage, ob zwei Welten zusammenprallen oder ob sich die beiden Effizienz-Enabler gar ergänzen und zusätzliche Potenziale freisetzen können. Interim Manager, die in der Prozessentwicklung in der mittelständischen Industrie unterwegs sind, können daraus ein neues Leistungsangebot ableiten.
Damit Sie sich schnell einen Überblick verschaffen können, sind in Tabelle 1 zentrale Elemente des Lean-Gedankens den Ansätzen von Industrie 4.0 gegenübergestellt. Es sind keinerlei Widersprüche wahrzunehmen, sondern im Gegenteil Lean-verstärkende Tendenzen durch Industrie 4.0.
Gegenüberstellung des Lean-Gedankens mit Ansätzen der Digitalen Transformation
Lean | Industrie 4.0 | |
Philosophie | Mehrwert für die Kunden, die Gesellschaft und die Wirtschaft schaffen | Noch stärker auf den Kunden und seine Wünsche fokussieren |
Fließende Prozesse |
Für kontinuierlich fließende Prozesse sorgen, um Probleme ans Licht zu bringen | Digitale Transparenz schaffen, um den Prozessfluss zu optimieren |
Pull-Prozesse | Pull anwenden, um Überproduktion zu vermeiden | Vom Auftrag ausgehend die Produktion planen und die Planung kontinuierlich optimieren |
Produktion nivellieren |
Lieber langsam und gleichmäßig als schnell und sprunghaft | Kontinuierlich mit maximaler Geschwindigkeit |
Qualitäts- bewusstsein |
Kultur, die auf Anhieb Qualität erzeugt, statt ewiger Nachbesserungen | Kurze Regelkreise sorgen für Qualität |
Standardisierung | Standardisierte Aufgaben als Grundlage für kontinuierliche Verbesserungen | Standardisierung ist eine Grundlage für die digitale Transformation |
Visuelle Kontrollen |
Papier-Kanban und Flipcharts zur Visualisierung, damit die Aufmerksamkeit der Menschen am Arbeitsplatz bleibt | Transparenz auf großen Bildschirmen und mobilen Geräten sowie Augmented Reality (Datenbrillen, etc.) erlauben es, die digitalen Vorteile direkt am Arbeitsplatz zu nutzen |
Technologien | Nur gründlich getestete Technologien einsetzen | Automatisierung dient dem Prozess und nicht umgekehrt |
Führungskräfte und Mitarbeiter |
Arbeitsabläufe und Lean-Philosophie genau verstehen | Standardisierte Arbeitsabläufe und digitale Möglichkeiten genau verstehen |
Geschäftspartner und Zulieferer | Partner zur kontinuierlichen Verbesserung anregen | Digital vernetzen, um Kundenwünsche gemeinsam noch besser zu erfüllen |
Situation | Sich selbst ein Bild von der Situation machen, um Probleme zu lösen |
Digitale Transparenz, ergänzt um Vor-Ort-Präsenz, für echtzeitnahe Verbesserungen nutzen |
Entscheidungen | Mit Bedacht und nach dem Kostenprinzip | Big Data-Analysen schlagen Entscheidungen vor |
Lernende Organisation |
Kontinuierliche Verbesserungen | Echtzeitnahe, kleine Regelkreise |
Interim Manager, die in der Prozessentwicklung tätig sind und ihre Positionierung mit Lean 2.0 weiterentwickeln, können ihren Kunden im Vergleich zu Mitbewerbern, die standardmäßige Lean-Prozessoptimierung anbieten, einen handfesten Mehrwert liefern. Sie können dazu beitragen, dass die Effizienz noch einmal deutlich gesteigert wird. Gleichzeitig bietet Lean 2.0 den Unternehmen, die beim Einstieg in die digitale Transformation noch zögern, eine Möglichkeit mit beherrschbaren Risiken. Weitere Details sind in meinem Whitepaper Lean 2.0 zu finden.
Erste Erfahrungen mit Lean 2.0 konnte ich in einem Mandat in der Elektronikindustrie sammeln. Aus Gründen der Geheimhaltung darf ich den Namen des Unternehmens an dieser Stelle nicht nennen. Es produziert und verkauft elektronische Messgeräte. Darüber hinaus bietet es einen Wartungsservice an, der von Ingenieuren und angelernten Hilfksräften manuell durchgeführt wurde. Obwohl die Service-Abteilung schon einige Maßnahmen zur Vermeidung von Verschwendung durchgeführt hatte, waren die Ergebnisse in Hinblick auf die Durchlaufzeiten noch nicht zufriedenstellend. Als interimistische Projektmanagerin bekam ich die Aufgabe, mit der Abteilung Maßnahmen zu erarbeiten, um die Effizienz um mindestens 20 % zu steigern.
Gemäß dem klassischen Lean-Ansatz führte ich mit einem kleinen Projektteam zunächst 5S durch, eine Methode, um Arbeitsplätze sauberer und übersichtlicher zu gestalten. Schon in dieser Phase schafften wir die Laufkarten, die parallel zu den Informationen im ERP-System am Gerät mitgeführt wurden, ab. Stattdessen wurden die Geräte beim Eingang mit einem QR-Code versehen, der mit Informationen über das Gerät im ERP-System verlinkt war. Diese Informationen wurden mit jedem Arbeitsschritt ergänzt. Die Service-Abteilung erhielt mehrere Tabletts, so dass die Mitarbeiter direkt am Gerät, egal wo es sich gerade befand, alle notwendigen Informationen abrufen konnten. So konnten wir mit ersten Quick Wins bezüglich schnellerer Durchlaufzeiten und mehr Transparenz für das Management punkten.
Bei der Wertstromanalyse, einer Aufnahme der Wertströme während des Services, legten wir Wert darauf, neben den Durchlauf-, Bearbeitungs- und Liegezeiten auch die Informationsflüsse sowie die dafür eingesetzten Medien zu erfassen. Auf Basis der Ergebnisse gelang es uns, einen neuen Service-Prozess zu designen, in dem die Liegezeiten der Geräte halbiert und viele Routinetätigkeiten automatisiert wurden. Alle Messergebnisse flossen direkt ins ERP-System. Getreu dem Lean-Gedanken wurden Push-Prozesse zu Pull-Prozessen umgestaltet, d. h. die Geräte wurden bedarfsorientiert durch den Service gesteuert. Die Ingenieure mussten von nun an nur noch eingreifen, wenn ungeplante Vorkommnisse eintraten.
Der Return-on-Investment wird innerhalb von zwei Jahren erwartet. Alle Problemlösungen sollen demnächst in einem Wiki erfasst werden, auf das die Service-Mitarbeiter im Bedarfsfall jederzeit mit dem Tablett zugreifen können. Weiterhin ist geplant, ein Social-Enterprise-Tool einzuführen, um die Kommunikation in der Abteilung weiter zu vereinfachen. Besonders interessant war für mich in diesem Projekt, dass die anfängliche Ablehnung gegenüber ausschließlich virtuell transportierten Informationen im Laufe der Arbeit bei den meisten Mitarbeitern in Enthusiasmus umschlug. Ausschlaggebend waren wohl einerseits Trainings-on-the-Job, wie sie ein Interim Manager, der immer vor Ort ist, gut durchführen kann, und andererseits dass die Geschäftsführung die notwendigen Hilfsmittel, wie beispielsweise die Automatisierungslinie und dieTabletts, zur Verfügung stellte. So entwickelte sich der Einstieg in die digitale Transformation mehr oder weniger von selbst. Der weitere Erfolg im Unternehmen wird dadurch bestimmt werden, ob es der Geschäftsführung gelingt, den Funken in die anderen Bereiche überspringen zu lassen. Vielleicht entsteht hieraus auch der Bedarf für ein weiteres Interim Mandat.
Dr.-Ing. Angelika Kolb-Telieps
Dr.-Ing. Angelika Kolb-Telieps ist DDIM-Mitglied und Inhaberin von K-T Innovation. Sie ist mit den Schwerpunkten Innovation, Industrie 4.0 und Qualität in der mittelständischen Industrie als Interim Managerin und Consultant tätig.
K-T Innovation
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