Warum wir Zeit in unseren Anstand und unsere Integrität investieren sollten?

Ein Beitrag von Rudolf X. Ruter // Experte für Corporate Governance

Jeder Mensch braucht Anstand. Wie der Fisch das Wasser zum Leben. Anstand kann man nicht erzwingen, Anstand muss man vorleben. Das ist ein Plädoyer für einen Gegenpol der Unanständigkeit. Für einen Hafen der Anständigkeit und Integrität, wo sich jeder von uns wiedererkennt und wohlfühlt. Es geht um den wichtigsten Menschen, den wir kennen: Du und ich und warum wir jeden Tag 10 Minuten mehr investieren sollten in Anstand.

Wo ist der Anstand geblieben?

Wo kann ein gutes und korrektes Benehmen beobachten werden? Ein Benehmen, das auf guten Sitten und einer von der Gesellschaft erwarteten, angemessenen und akzeptieren, wertgeschätzten Sinn- und Werte-Vorstellung basiert. Anstand als anerkannte Grundbedingung, als selbstverständlich empfundener Maßstab für ethisch-moralischen Anspruch und Erwartung an gutes und richtiges Verhalten im Zusammenleben mit anderen in der Gemeinschaft im Kleinen und in der Gesellschaft im Großen.

Anstand bestimmt die Umgangsformen und unsere Lebensart. Axel Hacke hat mit seinem lesenswerten Buch „Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen“ diesen Maßstab wieder in die aktuelle Diskussion zur Glaubwürdigkeit und Ehrbarkeit eingebracht. Anständige Menschen halten ihre mündlichen und schriftlichen Versprechungen ein. Sie sind glaubwürdig und achten Vertrauen als Vermögenswert. Sie nehmen Rücksicht und respektieren ihre Mitmenschen, ihre Nachbarn, ihre Kollegen und sie fördern die Würde der ihnen anvertrauten Menschen. Sie leben in Anstand – im Sinnen von dem Schweizer Aphoristiker Paul Schibler (*1930) „Anstand ist Respekt vor der Würde des anderen“.

Wer bestimmt, was gutes Benehmen ist?

Für das Miteinanderauskommen braucht es Regeln. Anstandsregeln als Leitplanken für eine gemeinschaftliche akzeptierte Sinn- und Werte-Orientierung. Wie zum Beispiel schon unsere Vorfahren in den Zehn Geboten des Alten Testament schrieben: „Du sollst Deinen Vater und Deine Mutter ehren und Du sollst nicht lügen“ sind dabei noch die am einfachsten einzuhaltenden Regeln.

Wer legt vernünftige, gesellschaftliche Grundbedingungen fest? „Was ist Vernunft? Der Wahnsinn aller?“ fragte schon Baruch de Spinoza (1632-1677) holländischer Philosoph. Wer entscheidet, was gutes und schlechtes Benehmen ist? Sind Aufrichtigkeit, Höflichkeit, Hilfsbereitschaft, Loyalität und Respekt anderen gegenüber in unserer Zeit aus der Mode gekommen? Sind das Haltungen von „Warmduschern“, „Weicheiern“ und „Loosern“?

Jeder von uns wurde bei Geburt mit bestimmten Sozialkompetenzen ausgestattet. Einer Kombination aus Anpassungs- und Durchsetzungsfähigkeit, die es jedem ermöglichen soll, in Kommunikations- und Interaktionssituationen entsprechend den Bedürfnissen der Beteiligten Realitätskontrolle zu übernehmen und effektiv zu handeln. Soziale Intelligenz und soziale Instinkte wie z.B. Gerechtigkeitsempfinden, Beschützerinstinkt und Mutterliebe fördern unser Wohlempfinden. Niemand kam mit Geldgier, Machtgeilheit, Niedertracht oder einem Mördertrieb auf die Welt. Gesunder Egoismus hat die Natur gerecht mit einem Geselligkeitstrieb gepaart. Dem Wunsch nach Zugehörigkeit in einer erfolgreichen Gruppe. Einer Gruppe, deren (Anstands-) Regeln wir gerne übernehmen.

Sind wir noch ausreichend anständig?

Aber was ist passiert in der Evolution bzw. unserer eigenen Entwicklung? Haben sich die Gruppenzugehörigkeiten oder die (Anstands-) Regeln innerhalb homogener Gruppen verändert? Gibt es noch gesellschaftliche Gruppen wie z.B. Elternhaus und Schule mit den gleichen akzeptierten Sinn- und Werte-Orientierungen? Sind wir noch ausreichend anständig? Es geht um uns selbst, den einzelnen, den wichtigsten Menschen, den wir kennen: Du und ich.

Darf ich noch anständig sein?

Darf ich noch anständig sein in geänderten Gruppierungen mit geänderten Regeln? Was denkt mein Nachbar, mein Kollege und mein Freund? Fühlt er sich auch unwohl?  Einige spontane Beobachtungen aus dem vermeintlichen einfachen Leben lassen mich nachdenklich werden:

Beispiel ZUHÖREN: Wenn früher mehrere Freunde am Tisch zusammen waren, sprach einer und alle anderen hörten zu. Dem Sprechenden wurde Respekt erbracht. Durch die anschließende Diskussion (Rede, Gegenrede) hoffte man, Neues und Interessantes zu erfahren. Heutzutage dient der Tisch oft nur noch als Mittelpunkt von zahlreichen, durcheinander wabernden Gesprächen. Der Lärmpegel ist hoch und keiner versteht den anderen, geschweige lernt noch etwas dazu.

Beispiel DANKE SAGEN: Warum bedanken sich nur noch wenige, z.B. für erhaltene Geburtstagswünsche? Ob Geburtstagsgeschenke (beim Eintreffen der Gäste an das Geburtstagskind überreicht und dann auf den Geschenktisch abgelegt) Freude und das Interesse des Beschenkten getroffen haben, erfährt der Schenkende nur noch bei hartnäckigem Nachfragen am nächsten Tag. Wer sendet am Tag nach einer Einladung noch ein kleines Dankeschön für den schönen Moment? Wer schenkt der Supermarktkassiererin ein Lächeln und sagt Danke für deren Mühe und Stress?

Beispiel WIE GEHT ES DIR: Wollen wir wirklich die Antwort des Befragten hören? Wollen wir wirklich in jedem unpassenden Moment von unseren Sorgen und Nöten berichten? Warum respektieren wir unser Gegenüber so wenig? Warum verwenden wir Respekt (Achtung, Anerkennung, Rücksicht, Freundlichkeit, Disziplin) nicht als eine normale Form der Wertschätzung, Aufmerksamkeit und Ehrerbietung gegenüber einer anderen Person? Wir wollen doch selbst auch geliebt und respektiert werden?

Nostalgische Illusion oder Realität?

Jeder Mensch braucht Anstand. Wie der Fisch das Wasser zum Leben. Anstand kann man nicht erzwingen, Anstand muss man vorleben. Anstand ist eine Tugend wie zum Beispiel Mut und Respekt. Jeder Mensch hat Moral und Anstand und sucht es auch stets bei seinem Gegenüber.  Der eine vielleicht weniger als der andere. Und der andere vielleicht dafür etwas mehr. Das hat nichts mit nostalgischer Illusion zu tun. Das ist gelebte Realität.

Wie können wir zu unserer Integrität und zu unserem Anstand wieder zurückfinden?

Eigentlich ist es sehr einfach, aber doch so schwer: Wir müssen nämlich Zeit investieren, und zwar am besten jeden Tag: zehn Minuten in unsere Reputation und unsere Integrität für unser eigenes Wohlempfinden:

10 Minuten mehr ZUHÖREN: Hören Sie mehr zu und zeigen Sie sich neugierig. Versuchen Sie den anderen Menschen zu Verstehen. Empathie ist nicht spontan erlernbar, aber Zuhören und aktiv (Nach-) Fragen ist ein guter Ansatz. Zeigen Sie sich interessiert. Halten Sie sich dabei mit Redundanzen und Selbstdarstellungen zurück. Ganz im Sinne von dem deutschen Komiker Karl Valentin (1882 – 1948): „Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen„.

10 Minuten mehr RESPEKT: Gleich welcher Person gegenüber, 10 Minuten mehr Liebe und Respekt erbringen. Vorbild sein. In Vorleistung gehen. Seinen Respekt erbringen. Dann wird man den Respekt des anderen auch erfahren und verdienen. Respekt und Liebe sind unzertrennlich. „Die Anerkennung, das Lob der anderen, stärkt unser Selbstwertgefühl. Es gibt Schwung für neue Aktivitäten. Aber man muss auch selbst die Kraft in sich haben, andere anzuerkennen. Und das sollte man öfter tun. Es macht den Umgang untereinander leichter“ wusste schon die deutsche Verlegerin Anna Magdalena Burda (1909 – 2005).

Jeder kann anständig sein

Ich will keine rhetorische Selbstaufwertung. Keine staatlichen Ethik-Kommissionen und keinen weiteren populistischen Moral-Narzissmus. Ich plädiere für einen Gegenpol gegen den Ozean der Unanständigkeit. Für einen Hafen der Anständigkeit, wo sicher jeder von uns wieder erkennt und wohlfühlt.

„Es genügt nicht, ein anständiger Mensch zu sein. Man muss es auch zeigen.“ Honoré de Balzac (1799 – 1850). Wir brauchen auch keine besseren oder neuen Gesetze. Wir brauchen mehr Mut zum persönlichen Anstand.

Rudolf X. Ruter, ist Wirtschaftswissenschaftler, Autor, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Finanzexperte im Sinne des AktG und Unternehmensberater und gilt als einer der anerkanntesten Fachexperten für das Thema Corporate Governance in Deutschland. Er ist derzeit u. a. Mitglied der Expertenkommission des Deutschen Public Corporate Governance – Musterkodex und Mitglied des Beirats Financial Experts Association e.V. (Berufsverband für Aufsichtsräte), der Beiräte Baden-Württemberg und Mitglied der Deutschen Digitalen Beiräte. Er hat zahlreiche Publikationen u. a. zum Thema Nachhaltigkeit, Corporate Governance, Compliance, Aufsichtsrat/Beiräte und Unternehmensführung veröffentlicht und moderiert den zweiwöchigen Livestream / Video / Podcast „Aufsichtsrats-Talk“ bei Directors Academy.